Sonntag, 30. Juni 2013

Wanderlust.

"Deine Augen sind wie Blitze. Ein kurzes helles Aufleuchten, wenn Sie über den Nachthimmel jagen, welches dann aber in der nächsten Sekunde schon wieder von einer grauen Dunkelheit der dicken Wolken abgelöst wird. In deiner Welt herrscht ein Sturm, womöglich einer nach dem anderen, oder einer, der niemals vergangen ist und dich nicht loslässt. Du schaust mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Du öffnest den Mund, atmest ein, aber aus dir kommt kein Wort. Du schliesst den Mund, fährst mit der Zunge über die Lippen, während dein Blick auf den Boden fällt. Was ist los? Was willst du mir mit deinen Augen sagen, dass du nicht mit Worten aussprechen kannst?"
Ich wünschte, ich könnte deine Gedanken lesen, denn dann wäre es nicht so schwierig wie jetzt, nicht so angespannt, nicht so ungewiss. Ich wünschte, ich könnte deine Geheimnisse erraten, aber das kann ich nicht. Ich wünschte, du könntest mich in dein Herz lassen. 
Aber weisst du, in meiner Welt läuft vieles ganz anders als in deiner. In meiner herrscht nicht diese Hoffnungslosigkeit. In meiner Welt reden Menschen miteinander, sie hören einander zu, sind füreinander da. Ich kann verstehen, dass das alles fremd für dich ist, aber man kann lernen, sowas in seine eigene Welt reinzulassen. Mir ist klar, dass du Zeit brauchst. Aber bitte, lass mich nicht im Regen stehen. Gib doch auch dir selbst eine Chance, glücklich zu sein.

Sie zerknüllt das Papier und wirft es in den Kamin. Es ist süss, wirklich süss, aber er hat keine Ahnung von ihrem Leben, von ihrer Vergangenheit, von ihrer Mission; dem Finden einer Person. Der Person, die einfach gegangen ist, einfach aus ihrem Leben verschwunden ist. Ihr geliebter Bruder. Sie hat keine Zeit für Romanzen und sie weiss, dass er es nur gut meint, dass er sie mag, aber sie möchte das alles nicht. Nicht sofort. Gefühle sind momentan fehl am Platz, sie darf sich nicht ablenken lassen. Sie muss ihn finden, das ist das Einzige, was zählt.
Sie holt ihr Glas, gefüllt mit rotem Wein, vom Tisch und setzt sich auf den Teppich vor dem Kamin. Sie fasst an ihre Stirn und lässt einige Erinnerungen in ihrem Kopf vorbeiziehen, in der Hoffnung, auf ein Wort, auf einen Namen oder auf sonst irgendetwas zu stossen, das sie ihrem Bruder wieder näherbringen könnte. Vielleicht einen Ort, wo er öfter hinging, einen Namen, den sie abchecken könnte, eine Zahl, einfach irgendwas. Aber es ist nichts Brauchbares vorhanden, nichts, wo sie nicht schon längst gesucht hat.
Ihre Gedanken wandern wieder zu ihm, diesem jungen Mann, der ihr diesen Zettel geschickt hat. Sie fragt sich, ob sie ihm antworten soll, und wenn ja, was. Sie kommt zum Schluss, dass sie alle Fäden reissen muss, um weiterzukommen. Sie ist schon viel zu lange hier.

Danke für den Zettel, aber leb wohl.



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